* 34 *

34. Waldwege

 

Baum

»Ihr habt euren Panther vergessen«, flüsterte Sam. Jenna, Septimus und Beetle standen im graugrünen Licht der Walddämmerung vor Wolfsjunges Biege und blinzelten den Schlaf aus ihren Augen. Soweit Sam erkennen konnte, fehlte der Panther.

Zu schläfrig, um ein vernünftiges Wort herauszubringen, zog Jenna Ullr unter ihrem Mantel hervor und zeigte ihm die rote Katze. Sam stutzte kurz, dann zog er die Augenbrauen hoch und grinste. Wieder mal typisch Jenna, dass sie einen von diesen Transformanten ergattert hatte, dachte er bewundernd. Das Mädchen mochte kein Talent zum Zaubern haben, aber etwas hatte sie, so viel stand fest. Eine Königin eben, sagte er sich. Morwenna wusste nicht, worauf sie sich eingelassen hätte. Doch einerlei was die Hexenmutter wusste oder nicht, es wurde höchste Zeit, aus dem Wald hier zu verschwinden, bevor der Hexenzirkel nachsehen kam. Es war nie angenehm, wenn der Hexenzirkel nachsehen kam.

Sam hatte drei Rucksäcke gepackt. Sie hatten mal Jo-Jo, Edd und Erik gehört, als die drei ihr Essen noch selbst beschafften, doch nun, da sie den größten Teil ihrer Lebensmittel – außer Fisch – von den Wendronhexen bekamen, rekelten sie sich zu Sams Ärger lieber den ganzen Tag am Lagerfeuer. Sam wusste alles über das Reisen im Wald und hatte sich mit allem eingedeckt, was Reisende seiner Meinung nach brauchen konnten.

Jenna setzte Ullr ab, zog das kostbare Buch mit Nickos Notizen aus der Tasche, verstaute es behutsam in ihrem Rucksack und wuchtete den schweren Sack auf ihre Schultern. »Ullr«, flüsterte sie, »du musst mir folgen.« Ullr miaute.

Er verstand Jennas Sprache mittlerweile so gut, wie er Snorris Sprache verstanden hatte. Er war ein treuer Kater und würde Jenna überallhin folgen.

Drei schwer beladene Gestalten und eine kleine rote Katze trotteten hinter Sam aus dem Lager der Heaps in den Wald. Es war ein feuchter, trüber Morgen. Nässe tropfte von den Bäumen, sickerte in ihre Kleidung und ließ die Kälte des Waldes in ihre Glieder kriechen. Sam nahm den breiten Weg, der den Hügel hinter dem Lager hinaufführte. Mit dem langen Wanderstab in seiner Hand nahm er das Maß für seine federnden, leichtfüßigen Schritte, und Jenna dachte bei sich, dass er wie ein Mann des Waldes aussah.

Sie schlossen zu ihm auf und marschierten neben ihm her, doch Sams Gang war schneller, als es den Anschein hatte, und so waren alle froh, als er nach ungefähr eineinhalb Kilometern neben einem großen, runden Felsblock stehen blieb. Er kniete sich hin und klopfte leicht gegen den Felsblock, der einen hohlen, glockenähnlichen Ton von sich gab. Sam nickte zufrieden, sprang wieder auf und verschwand zwischen dicht stehenden hohen Bäumen mit schlanken, glatten Stämmen.

Er folgte einem gewundenen Weg durch den Wald, den nur er sehen konnte. Septimus, Beetle, Jenna und Ullr stapften nun im Gänsemarsch hinter ihm her und mussten sich konzentrieren, damit sie seinen bräunlich-blauen Mantel nicht aus den Augen verloren, der mit der gesprenkelten Rinde der Bäume so gut verschmolz. Zum Glück war der Untergrund leicht begehbar – ein weicher Mulch aus dem Laub vieler tausend Jahre, aus dem kleine grüne Farnwedel ihre Köpfe ins Frühlingslicht streckten wie neugierige kleine Schlangen.

Plötzlich blieb Sam stehen. »Wir sind da – am Tor«, sagte er mit einem breiten Grinsen. »Hab ich mir doch gedacht, dass ich es wiederfinden würde.«

»Nur gedacht?«, fragte Septimus.

»Ja«, antwortete Sam. »Aber es war ein Waldgedanke. Und die sind immer richtig. Du musst deinem großen Bruder nur vertrauen, Brüderchen. Also, wir müssen jetzt da durch. Mich lassen sie durch, weil ich nach Wald rieche. Aber ihr riecht nach der Burg. Und die Burg ist hier in der Gegend nicht besonders beliebt. Deshalb solltet ihr jetzt eure Mäntel anziehen – die sind in euren Rucksäcken.«

Jeder fand in seinem Rucksack einen Mantel aus Wolverinenfell. Ullr fauchte, als Jenna sich ihren Mantel um die Schultern legte.

»Igitt!«, rief sie. »Wie der stinkt. Und die Beine sind auch noch dran.«

»Dass er stinkt, ist ja der Witz bei der Sache, Schwesterchen«, erklärte Sam. »Ihr müsst richtig riechen. Und mit den Beinen macht man den Mantel zu. Siehst du?« Sam band die Beine ihres Wolverinenmantels fest unter ihrem Kinn zusammen, so wie ihr Sarah Heap den Mantel immer zusammengebunden hatte, als sie noch klein war. »Der Mantel besteht aus zwei Wolverinenfellen«, fuhr Sam fort. »Man lässt immer die Vorderbeine der oberen Wolverine und den Schwanz der unteren Wolverine dran. Das ist so Brauch im Wald.« Jenna linste nach unten und sah, dass hinten an ihrem Mantel ein eklig aussehender Wolverinenschwanz baumelte.

»Solange die Zähne nicht dran sind, stört mich das nicht«, murmelte Septimus. Er hängte sich den Mantel um und staunte, wie warm er war – und wie geschützt er sich darunter fühlte. Mit einem Mal war er ein Teil des Waldes, ein Geschöpf wie jedes andere, das hier zu Hause war.

Sam musterte die drei neuen Waldbewohner mit beifälliger Miene. »Gut«, sagte er. »Jetzt dürften sie uns akzeptieren.«

»Wer dürfte uns akzeptieren?«, fragte Jenna und blickte sich um.

»Die da.« Sam deutete auf zwei riesige Bäume, die wie Wächter vor ihnen aufragten. Die beiden bildeten das erste Paar einer langen Doppelreihe von Bäumen, die alle gleich aussahen und eine schmale Gasse bildeten. Von jedem Baum hing ein dicker Ast herab und versperrte ihnen den Weg. »Wartet hier«, sagte Sam. »Kein Wort und verhaltet euch ganz still. Klar?«

Sie nickten. Sam trat auf die Bäume zu und begann zu sprechen. »Wir sind des Waldes, wie ihr des Waldes seid«, sagte er langsam mit tiefer Stimme. »Wir bitten um die Erlaubnis, auf dem Waldweg zu gehen.«

Die Bäume reagierten nicht. Sam rührte sich nicht. Er stand breitbeinig da, die Arme verschränkt, und blickte unerschrocken in die Gasse zwischen den Bäumen. Jenna, Beetle und Septimus warteten gespannt. Ullr legte sich neben Jenna nieder und schloss die Augen. Die Stille des Waldes umfing sie. Sam stand reglos da und wartete. Lange Minuten verstrichen, und Sam wartete weiter ... und wartete und wartete. Keiner wagte eine Bewegung. Nach ungefähr zehn Minuten bekam Beetle einen Krampf im Bein und drehte ganz langsam eine drollige Pirouette, um den Krampf zu lösen. Septimus beobachtete ihn, und seine Augen lachten. Beetle fing das Lachen auf und gab ein ersticktes Prusten von sich. Jenna warf ihnen einen warnenden Blick zu, und beide gaben sich alle Mühe, wieder ein ernstes Gesicht zu machen – bis Beetle plötzlich mit einem dumpfen Schlag umfiel und, am Boden liegend, von einem lautlosen Lachen geschüttelt wurde. Und Sam rührte sich noch immer nicht.

Schließlich, als sich Jenna schon fragte, ob Sam die ganze Sache bloß erfunden hatte, bewegten sich die Äste, die ihnen den Weg versperrten, langsam nach oben, und wie eine sich ausbreitende Welle folgten alle anderen Bäume der Reihe ihrem Beispiel. Sam winkte, und schweigend gingen sie hinter ihm durch die Gasse. Sowie sie an einem Baum vorbei waren, senkte er den Ast hinter ihnen wieder.

Die Gasse mündete auf eine kleine Lichtung, auf der drei große, teilweise mit Grassoden abgedeckte Holzstöße standen, jeder mit einer klapprigen Tür an der Seite.

»Das sind alte Kohlenmeiler«, sagte Septimus. »Die haben wir bei der Jungarmee schätzen gelernt. In der Nacht boten sie warmen und sicheren Unterschlupf.«

Sam betrachtete Septimus mit neuem Respekt. »Manchmal vergesse ich, dass du in der Jungarmee warst. Du kennst den Wald auch.«

»Aber anders«, erwiderte Septimus. »Bei uns hieß es immer, wir gegen den Wald. Du lebst mit dem Wald.«

Sam nickte. Je häufiger er Septimus sah, desto besser gefiel er ihm. Septimus wusste, worauf es ankam. Man musste es ihm nicht erklären, er wusste es einfach.

»Aber in Wahrheit«, sagte Sam, »sind das gar keine Kohlenmeiler. Es sind Waldwege. Jeder führt in einen anderen Wald – sagt man.«

Jenna betrachtete die drei Holzhaufen bestürzt – nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass man zwischen verschiedenen Wäldern wählen musste. »Aber woher sollen wir wissen, in welchen Wald wir müssen?«, fragte sie.

»Nun, wir könnten ja die Türen aufmachen und einen Blick hineinwerfen«, antwortete Sam.

»Wirklich?«, fragte Jenna. »Und wir müssen nicht hinein?«

»Nein, wieso denn? Im Wald gibt es keine Vorschriften.«

Beetle war sich da nicht so sicher. Er hatte eher den Eindruck, dass es jede Menge Vorschriften gab, wie zum Beispiel, dass man stinkende Wolverinenfelle tragen oder ganz leise sein musste, um nur zwei zu nennen, aber er verkniff sich eine Bemerkung. Er kam sich vor wie ein Junge, der ganz neu an der Schule war, jedem aus dem Weg ging, der größer war als er, und in der fremden Umgebung alles auf einmal zu verstehen versuchte. Er sah zu, wie Sam selbstsicher die Tür des mittleren Haufens aufzog. Ein Schwall heißer Luft schlug ihnen entgegen. »Der führt durch die Wüste«, sagte Sam, während ihm Sand um die Füße wirbelte.

»Aber ich dachte, sie führen nur durch Wälder«, sagte Jenna.

»Das sind uralte Wege«, antwortete Sam. »Und Wälder verändern sich. Wo früher ein Wald war, ist jetzt eine Wüste. Wo früher eine Wüste war, ist jetzt vielleicht ein Meer. Alles muss sich mit der Zeit verändern.«

»Sag nicht so was«, erwiderte Jenna scharf.

Sam sah sie überrascht an – und dann begriff er, was er gesagt hatte. »Entschuldige, Jenna. Nicko wird noch ganz der Alte sein, wenn ihr ihn findet, keine Sorge. Sehen wir nach, ob der da der richtige ist.«

Sam schloss die Tür zur Wüste und öffnete die des linken Haufens. Feuchte Hitze strömte heraus, und das heisere Krächzen von Papageien störte die Stille des Waldes. »Ist es der?«, fragte Sam.

»Nein«, antwortete Jenna.

»Bis du sicher?«

»Ja«, sagte Septimus.

»Gut, dann muss es der da sein.« Mit theatralischer Geste riss Sam die Tür des letzten Haufens auf. Schnee wehte ihnen ins Gesicht. Jenna leckte sich die Lippen – der metallische Geschmack einer Schneeflocke aus einem fremden Land brachte sie Nicko ein kleines Stück näher.

»Das ist er«, sagte sie.

»Bist du sicher?«, fragte Sam.

»Ich weiß es. Nicko hat sich eine Liste gemacht. Mit lauter warmen Sachen und Fellen.«

»Na dann«, sagte Sam. »Wenn du dir sicher bist.« Plötzlich wirkte er gar nicht mehr so unbekümmert wie bisher. Für Sam war es eine Sache, hin und wieder einen Fremden, der seine Wüstenkarawane verloren hatte, oder ein gekentertes Dschungelkanu in ihren jeweiligen Wald zurückzubringen, aber eine ganz andere, seinen kleinen Bruder und seine kleine Schwester ins Unbekannte zu schicken. »Lasst mich mitkommen«, sagte er.

Septimus schüttelte den Kopf. Diese Sache wollte er allein machen, ohne dass ihm sein älterer Bruder sagte, was er zu tun hatte. »Nein, Sam. Wir kommen schon zurecht.«

»Bist du sicher?«

»Ja, Sam«, bekräftigte Jenna. »Und wir sind bald wieder da, mit Nicko.«

»Und Snorri«, fügte Septimus hinzu.

Wieder wirbelte Schnee aus der Tür. Sam nahm das rote Halstuch ab, das er um den Hals trug, knotete es oben um seinen Wanderstab und gab den Stab Septimus. »Steck ihn in den Boden, um die Stelle zu markieren, wo ihr reingekommen seid«, sagte er. »Ich habe mir sagen lassen, dass man sie nur schwer wiederfindet, wenn man erst mal da drin ist.«

»Danke«, sagte Septimus.

»Schon in Ordnung«, grummelte Sam.

»Oh, Sam«, rief Jenna und umarmte ihn fest. »Danke, vielen, vielen Dank.«

»Ja«, sagte Sam.

Sie traten in den Meiler, und ihre Füße versanken im Schnee.

Sam winkte. »Wiedersehen, Jenna, Sep, Fiedel. Passt auf euch auf.« Und dann schloss er die Tür.

Septimus Heap 04 - Queste
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